Gültig bis heute – die Thesen
2007 war es genau hundert Jahre her, dass Maria Montessori ihr erstes Kinderhaus eröffnete: die Casa dei bambini in San Lorenzo, einem Elendsviertel von Rom – an einem Ort also, den man heute als sozialen Brennpunkt bezeichnen würde. Man nannte es damals noch nicht so, aber die Integration ganz unterschiedlicher Gruppen von Kindern stand dort im Vordergrund. Eine beispiellose Entwicklung setzte ein – und Montessoris Lehre verbreitete sich weltweit.
Diese Seiten sollen zeigen, wie nachhaltig das Denken und Schaffen Maria Montessoris das täglich Miteinander in der Spielstube, im Kinderhaus und in der Schule in Coesfeld prägt – von der Gestaltung des Tagesablaufs über den Einsatz des speziellen Montessori-Materials bis hin zu motopädischen Angeboten in der Palestra, der Turnhalle des Kinderhauses.
Das Leben
von Anette Onken und Hanni Schwarmborn,
Montessori-Kinderhaus e.V.
Maria Montessori wurde als einzige Tochter einer wohlhabenden Beamtenfamilie 1870 in der Nähe von Ancona geboren. Sie war ein sehr aufgewecktes und intelligentes Mädchen, das eine besondere Begabung für Naturwissenschaften und Mathematik zeigte. Als einziges Mädchen absolvierte sie – mit großem Erfolg – ein naturwissenschaftliches Gymnasium in Rom und studierte Medizin. 1896 erlangte sie als erste Frau Italiens den Doktor-Grad der Medizin.
Im Rahmen ihrer ersten Assistenzarztstelle in einer psychiatrischen Klinik in Rom beschäftigte sie sich eingehend mit geistig behinderten Kindern. Sie erkannte, dass diese Kinder nicht nur körperliche Versorgung benötigten, sondern auch geistige Anreize durch Beschäftigungsmöglichkeit ihrer Hände und Sinne erhalten mussten. Sie fand Anregung bei den französischen Ärzten Jean Marc Gaspard Itard und Edouard Séguin, deren Erkenntnisse und Materialien sie übernahm und weiterführte. Um die Jahrhundertwende studierte sie Anthropologie und Pädagogik und übernahm die Leitung eines Ausbildungsinstitutes für Heilpädagogik. Diesem Institut schloss sie eine Schule für geistig behinderte Kinder an. Sie wandte ihre Methode an und erregte Aufsehen mit ihren unerwartet guten Ergebnissen.
Ihre erfolgreiche Arbeit mit nichtbehinderten Kindern setzte sie fort und eröffnete 1907 ihr Casa dei bambini, ein Kinderhaus in San Lorenzo, einem Elendsviertel in Rom. Sie schulte ihre Mitarbeiter im achtungsvollen Umgang mit den Kindern und den Materialien, ermöglichte kindgerechte Einrichtungen, förderte die freie Wahl der Tätigkeit und beobachtete immer wieder die Verhaltensweisen der ihr anvertrauten Kinder. Dabei erlebte sie die enorme Kraft und Freude dieser Kinder im Tun, ihre Zufriedenheit und Entwicklungsfähigkeit im Versinken in eine Arbeit. Den Erwachsenen sah sie als Helfer selbständiger Kinder. Ihr Kinderhaus wurde berühmt. Viele Besucher aus dem In- und Ausland kamen und gründeten weitere Kinderhäuser in ihrer jeweiligen Heimat. Maria Montessori begann zu reisen und Vorträge zu halten, die sie in ihrem ersten Buch Die Entdeckung der Kindheit zusammenfasste.
Von Europa nach Indien
1913 ging sie für mehrere Jahre nach Spanien und gründete in Barcelona das Haus Die Kinder in der Kirche. Ihre Pädagogik ist zutiefst religiös und von der Achtung gegenüber jeder Kreatur geprägt. Mit Beginn des Spanischen Bürgerkrieges verließ sie Barcelona und wurde während einer Vortragsreise in Indien durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges festgehalten. Sie lebte dann längere Zeit in Adyar. Während der Zeit des Faschismus in Europa wurden ihre Schulen geschlossen und ihre Bücher in Deutschland verbrannt. 1949 kehrte sie endgültig nach Europa – nach Holland – zurück, hielt erneut Vorträge und gab ihre Erfahrungen und Prinzipien ihrer Methode vornehmlich in eigenen Kursen weiter. 1949 wurde die Ärztin und Pädagogin für den Friedensnobelpreis nominiert. Noch voller Pläne starb sie 1952 mitten im Gespräch im Alter von zweiundachtzig Jahren.
Die Grundprinzipien der Montessori-Pädagogik
aus der Informationsschrift des Montessori-Arbeitskreises Coesfeld e. V.
Maria Montessori stellt die Pädagogin nicht über das Kind, sondern versteht sich als Wächterin und Beobachterin der kindlichen Bedürfnisse und Entwicklung.
Für Maria Montessori stand das Kind im Mittelpunkt all ihrer überlegungen. Sie war eine genaue und einfühlsame Beobachterin des Kindes. Sie zeigte tiefen Respekt vor der Einzigartigkeit eines jeden Kindes – groß und klein, schwarz und weiß, behindert und nichtbehindert.
Sie hatte großes Vertrauen in die Kraft des Kindes, seine Entwicklungsarbeit aus sich heraus, seinen Anlagen gemäß, in seinem eigenen Tempo zu leisten. Beeindruckt war sie von der Erfahrung, dass schon kleine Kinder zu konzentriertem Tun fähig sind und eine Liebe zur Stille zeigen.
Auf dem Wege seiner Entwicklung braucht das einzelne Kind immer wieder die gezielte Hilfe eines Erwachsenen: Hilfe durch Zuwendung, Anregungen, durch Vertrauen, Zumuten, Halten und durch Grenzen setzen.
Freie Selbstentfaltung
Maria Montessori fordert das Recht des Kindes auf freie Selbstentfaltung. Nicht der Erwachsene weiß, wie das Kind zu sein hat, nicht er muss es mit entsprechenden Inhalten füllen, sondern das Kind selbst trägt den Willen und die Kraft in sich, die zur Entfaltung drängen.
Das Kind muss nach seinen spontanen Aktivitäten und Impulsen leben können. Der Gehorsam gegenüber diesem Auftrag von innen darf nicht erstickt werden. Deshalb betont Maria Montessori, dass es nichts Wichtigeres für den Erzieher gibt, als diese innere Aktivität zu sehen und anzuerkennen und alles zu tun, um ihr freien Raum zu geben, sie zu unterstützen und zu fördern.
Sensible Phasen
Das Kind hat einen Bauplan in sich und gemäß diesem brechen zu den verschiedenen Zeiten aus dem Innern die sensiblen Perioden auf. Das sind Zeiten besonderer Empfänglichkeit und Lernbereitschaft für den Erwerb ganz bestimmter Fähigkeiten. Antwortet man dem starken Antrieb des Kindes in einer solchen Zeit nicht mit einem entsprechenden Angebot, ist diese günstige Zeit vertan. Was es sich hier hätte spielend aneignen können, kann es später nur mühsam lernen. Wenn man das Kind als eigenständige Person respektiert, dann gesteht man ihm auch zu, seinen eigenen Rhythmus zu finden, seinen sensiblen Phasen entsprechend auf Dinge zuzugehen und auf andere nicht, in seinem individuellen Tempo und mit selbstbestimmten Wiederholungen Tätigkeiten auszuführen.
Freie Wahl der Tätigkeit
Die freie Wahl der Tätigkeit bedeutet für das Kind aber nicht einfach zu tun, was es will. Es ist nicht das Herausgenommensein aus Bindung und Ordnung, sondern das Gegenteil: Es ist gerade das übernehmen von Ordnung, aber durch freie Entscheidung übernommen und vollzogen. Diese Freiheit setzt also eine Bindung an eine innere Ordnung voraus, aber nicht von außen gefordert oder künstlich aufgezwungen, sondern als Folge freier Handlungen. Wo Kinder so leben können, entwickeln sie ein positives Ich- und Gemeinschaftsgefühl. Innerhalb der Grenzen, die durch das Material und durch das Zusammenleben mit anderen gesetzt werden, kann das Kind wirklich frei wählen, was es für seine Entwicklung braucht. Nur wer glaubt, dass das Kind in seinem Innern zum Guten angelegt ist, kann dem Kind in dieser Weise begegnen. Maria Montessori hat das feste Vertrauen, dass das Kind von innen her auf ein geordnetes, diszipliniertes und rücksichtsvolles Tun hin angelegt ist und danach auch von selber drängt.
Vorbereitete Umgebung
Aus dem Wissen um die Eigenaktivität, die sensiblen Phasen und die Bedeutung der Bewegung hat der Erwachsene nun die Aufgabe, die personale, soziale und materielle Umgebung des Kindes so vorzubereiten, dass es alles vorfindet, was ihm ein menschenwürdiges Aufwachsen in unserer Kultur und Gesellschaft ermöglicht. Hier findet es Freude, Sicherheit und Anreiz zum Lernen. Die vorbereitete Umgebung ist ein weit zu fassender Begriff, zu dem der gesamte Lebensraum des Kindes gehört, auch immaterielle Dinge, wie zum Beispiel die Haltung des Erziehers. Er tritt dem Kind mit Liebe und Achtung entgegen. Er hält sich zurück, beobachtet das Kind und gibt Hilfe und Anregung, wo das Kind es möchte. Das Kind tut alles allein, was es allein tun kann. Wenn der Erzieher überflüssig ist, ist das Wichtigste getan. Das Kind hat Selbständigkeit erreicht und damit Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl erworben. Montessori möchte altersgemischte Gruppen. Hier haben die älteren Kinder die Gelegenheit, den jüngeren zu helfen; die jüngeren können – wie in der Familie – von den älteren lernen.
Zur vorbereiteten Umgebung gehören auch die Materialien. Das Spielmaterial soll die echten Bedürfnisse des Kindes ansprechen. Das Kind soll nicht nur durch äußeren Reiz zu unechten Wünschen gebracht werden, sondern das tiefe Drängen nach sinnvollem Tun soll angesprochen werden. Neben den Möglichkeiten zur übung des praktischen Lebens und zur kreativen Gestaltung gibt es eine Fülle von didaktischem Montessori-Material. Jedes Material ist so beschaffen, dass sich das Kind aufgefordert fühlt, damit umzugehen. Es zielt auf Sinnesschulung, Muskelkoordination und Sprachentwicklung. Beim Tun mit den Händen lernt das Kind zum Beispiel durch vergleichen, paaren, unterscheiden und graduieren wichtige Zusammenhänge zu begreifen. In jedem Material wird eine Eigenschaft besonders hervorgehoben und bestimmte Schwierigkeiten werden isoliert. Somit wird dem Kind eine klare Gliederung seines Lernens ermöglicht. Der Erwachsene zeigt dem Kind ganz deutlich den Umgang mit dem Material und beschränkt sich in seinen verbalen äußerungen. Das Kind schaut zu und setzt das, was es gesehen hat, in eigenes Tun um. Dabei hat es die Möglichkeit, seine Handlungen zu kontrollieren und ist damit unabhängig von der Kontrolle, dem Lob oder Tadel des Erwachsenen. Das Material ist nicht Ersatz für die Realität, sondern immer nur Schlüssel zur Welt. Jedes Ding hat in der vorbereiteten Umgebung seinen festen Platz. Die Ordnung der Umgebung ist für das Kind lebensnotwendig und eine Basis zu seinem inneren Aufbau.
Maria Montessori möchte dem Kind nicht zusammenhanglos eine Fülle von Eindrücken und Kenntnissen aus den verschiedenen Sachgebieten vermitteln. Sie möchte das Kind von Anfang an den großen Zusammenhang und die Gesetzmäßigkeit einer Ordnung innerhalb des Kosmos erfahren und spüren lassen. Diese kosmische Erziehung wie Maria Montessori es nennt, weckt auch gleichzeitig eine Verantwortung für das Ganze.
Bewegung und Konzentration
Die Bedeutung der Bewegung nimmt in der Montessori-Pädagogik einen besonderen Platz ein. Sie wird in engem Zusammenhang mit der geistigen Entwicklung gesehen.
Maria Montessori versteht die Bewegung als unmittelbaren Ausdruck des geistigen und spontanen Lebens des Kindes. Von der Qualität der Bewegungen hängen Körperschema, räumliche und seitliche Vorstellungskraft ab. So lässt sich am Entwicklungsstand der Motorik und der Koordinationsfähigkeit der geistige Entwicklungsstand ablesen. In diesem Zusammenhang kommt der Hand des Kindes eine besondere Bedeutung zu. „Die Hand ist das äußere Hirn des Menschen” (Kant). Das Kind lernt handelnd. Es begreift die Dinge im wahrsten Sinne des Wortes.
Normalisierung und Heilung durch Konzentration
Die freie Wahl der Tätigkeit in einer vorbereiteten Umgebung und das Tun mit der Hand führen dazu, dass sich bei dem Kind immer wieder eine tiefe Konzentration auf den Gegenstand einstellt, die Montessori als Phänomen der Polarisation der Aufmerksamkeit bezeichnet.
Montessori sieht in der Konzentration einen wichtigen Faktor zur Normalisierung und Heilung. Fokussieren sich alle Kräfte des Kindes auf einen Interessenspunkt, dann verschwinden Launen, Fehler und Verhaltensauffälligkeiten immer weiter. Dann sehen wir das Kind, wie es wirklich ist: aktiv, interessiert, fröhlich, freiwillig, gehorsam und sozial.